Auszüge aus dem Expeditionstagebuch
 
Nach unserer Landung in Katmandu und 150 Kilometer Busfahrt erreichen wir die Grenze zu Tibet. Wir sind nervös. Ein mißtrauischer Beamter - und die Expedition wäre zu Ende, ehe sie begonnen hat. Wir wollen uns als Pilger ausgeben, die nach Lhasa laufen möchten. Niemand fragt uns, wozu wir auf dem Weg dorthin einen Eispickel brauchen. Nachts setzen wir uns von der Reisegruppe ab, umgehen chinesische Checkpoints und schlagen uns elf Tage lang zu Fuß und auf den Ladeflächen uralter Lastwagen durch nach Dongco, einem 30-Einwohner-Nest an einer zentraltibetischen Piste. Für uns ist Dongco der letzte Kontakt mit der Zivilisation.
Von nun an sind wir auf uns gestellt. 1000 Kilometer Fußmarsch durch eine unerforschte Steppe liegen vor uns. 1000 Kilometer - das ist so, als ginge man von Flensburg bis nach Genf. Wir haben ein flaues Gefühl im Magen, als wir nach einer letzten Peilung mit dem Orientierungssystem GPS die Piste verlassen und auf eine genau nördlich gelegene Hügelkette losmarschieren.
Einzelne Nomaden
Anfangs treffen wir gelegentlich auf tibetische Nomaden, die erstmals in ihrem Leben Europäer sehen. Nach anfänglicher Angst überwiegt bei ihnen die Neugierde auf die seltsamen Menschen, die sich selbst vor ihre Wagen gespannt haben. Der Mutigste der Gruppe kommt zögernd auf uns zu, auch wir nähern uns ein wenig, winken, lachen.
Ist das Eis erst einmal gebrochen, werden wir herzlich aufgenommen. Buttertee wird gestampft, geröstetes Gerstenmehl verteilt. In der Ecke steht meist noch die uralte Gabelflinte. Offenbar hat sich hier seit Sven Hedins Entdeckungsreise nichts verändert. Nach etwa 200 Kilometern verlaufen sich die letzten Spuren im Sand. Auch auf Nomaden treffen wir nun, nach gut zwei Wochen Fußmarsch, nicht mehr. Wir sind allein.
Harte Arbeit
Das Gehen fällt immer leichter, wird fast schon zur Meditation. Die Gedanken schweifen in die Ferne, sind zu Hause, bei Freunden, der Freundin, in Vergangenheit und Zukunft. Am allerwenigsten im Hier und Jetzt. Aber irgendwann ist jeder Gedanke schon einmal gedacht, die Vergangenheit zum x-ten Mal im Kopf durchgekaut.
Natürlich ist das Gehen nicht nur Meditation, sondern auch harte Arbeit. Bei 80 Kilogramm auf dem Anhänger machen sich schon die geringste Steigung, ein wenig Sand, Schnee oder aufgeweichter Boden bemerkbar. Und auf dem sumpfigen Permafrostboden wird ein Vorankommen fast unmöglich. Nur an der Oberfläche taut der gefrorene Boden bei hohen Temperaturen kurzfristig auf - ein Schlammpudding, in dem die Räder der Anhänger bis zur Achse versinken.
Tag 22: Besteigung des Zangser Kangri
Nach 22 Tagen Marsch stehen wir vor dem Gletscherabbruch des Zangser Kangri. Noch nie haben wir einen solch gewaltigen Gletscher gesehen. Selbst die mächtigen Schweizer Alpen kommen uns winzig dagegen vor.
Und dann das für uns Unfaßbare: Wir sind wahrscheinlich die ersten Menschen, die dieses grandiose Massiv sehen. Wir fühlen uns als Fremdkörper, als Eindringlinge in eine perfekte, unberührte Natur, in eine Welt von namenlosen 6000er Bergen. Wir errichten ein Basislager auf 5700 Meter Höhe, lassen Hänger und Ausrüstung zurück. Mit Steigeisen und Rucksäcken geht es auf dem Gletscher weiter. Nach zwei Tagen finden wir im Nebel den Südostgrat des Zangser Kangri. Wie in Trance gehen wir über den festen Firn. Der Grat wird eben - das muß der Gipfel sein! Wir steigen rasch wieder ab, bei Frank zeigen sich Anzeichen der lebensgefährlichen Höhenkrankheit: Kopfschmerz, Leistungseinbruch. Im Lager klappen wir völlig erschöpft und dehydriert zusammen.
Den nächsten Tag verbringen wir mit Kochen, Dösen und Trinken. Um nun von unserem Basislager das Zangser-Massiv zu verlassen, steht uns ein 5900 Meter hoher Paß bevor. Das Wetter ist hervorragend, und wir entschließen uns zu einer zweiten Besteigung: Unmittelbar neben unserem Lager erhebt sich ein wunderschöner pyramidenförmiger Berg. Er ist auf unserer Karte unbenannt, wir schätzen ihn auf etwa 6400 Meter Höhe.
Einsamkeit und Monotonie
Nach fast einem Monat im Changtang haben uns die Strapazen gezeichnet. Wir sehen stark gealtert aus, eingefallene Wangen, zerfurchte Gesichter und Hände. Auch psychisch fühlen wir uns ausgebrannt. Wir fragen uns: Sollen wir noch weitere 500 Kilometer Richtung Norden zur Seidenstraße gehen? Tag für Tag die Ungewißheit darüber, ob wir morgen auch Wasser finden, ob wir die nächste Bergkette überwinden können? Wir entscheiden uns für eine Abkürzung: Nach zehn Tagesmärschen Richtung Nordost müßten wir laut Karte auf eine Militärpiste treffen. Mit Verkehr können wir dort kaum rechnen. Dennoch könnten wir auf dieser Route die Hänger leichter über die folgenden unwegsamen Hochgebirgsketten bis Tura oder Qiemo ziehen. Das Risiko, verhaftet zu werden müssen wir in Kauf nehmen.
Die folgenden Tage gehen wir geruhsam an: sechs Stunden Gehzeit, üppige Essensrationen. Wir glauben, auf einem Laufband zu sein, jeder Tag ist gleich. In Gedanken sind wir längst in der nächsten größeren Stadt und lassen uns in Restaurants verwöhnen. Die Stimmung wird besser, am Vorabend des vermeintlich letzten Tages schreiben wir schon ein Fazit unserer Reise ins Tagebuch...
Tag 36: Wo ist die Piste?
Jäh werden wir am 36. Tag der Fußwanderung aus der entspannten Stimmung gerissen: Dort, wo nach unserer Karte die Piste verlaufen müßte, ist keine. Wir laufen stundenlang herum, suchen in der salzverkrusteten Landschaft nach Reifenspuren - nichts.
Wir sind verzweifelt. Ist dies unser Todesurteil? Jeder versucht, seine Gefühle vor dem anderen zu verbergen, um dem Gefährten nicht zu zeigen, was man wirklich fühlt: Angst. Blanke Angst, aus dem Changtang nicht mehr herauszukommen. Wir haben uns entgegen aller Vorsichtsmaßnahmen der letzten Wochen in eine Sackgasse hineinmanövriert, indem wir uns blindlings auf diese Piste verlassen haben. Die Verpflegung reicht noch für zehn Tage. Schlimmer aber, pro Kopf haben wir gerade noch sieben Liter Wasser. Die letzte Wasserstelle liegt zwei Tage zurück, in nördlicher Richtung sollen wir erst nach 80 Kilometern auf den nächsten sicher wasserführenden Fluß treffen - wenn die Karte diesmal stimmt.
Wassermangel
Um uns herum nichts als Salzsümpfe und Salzseen. Wir wollen versuchen, im Norden Trinkwasser zu finden. Die Stimmung an diesem Abend ist angespannt. Wir wechseln kaum ein Wort, denken darüber nach, was wir alles tun werden, sollten wir je wieder aus dieser verfluchten Gegend herauskommen.
Einen Tag später haben wir noch drei Liter Wasser. Die Anhänger sind leicht, dafür stehen wir vor dem Verdursten. Heute müssen wir Wasser finden. In einem trockenen Flußtal trennen wir uns: Der eine sucht flußaufwärts, der andere in der Gegenrichtung. Endlich eine tellergroße Pfütze, der Hufabdruck eines Wildesels, in dem sich leicht salziges Wasser gesammelt hat. Etwa eine halbe Tasse läßt sich daraus schöpfen, dann sickert langsam Wasser nach.
Kein Provinat mehr...
In den folgenden Tagen müssen wir zwei Bergketten überwinden. Das bedeutet täglich elf bis zwölf Stunden Gehen, unterbrochen von wenigen Pausen. Strikt nach Kompaßnadel zu marschieren ist in diesem Gelände nicht möglich. Immer wieder queren wir kleinere Hügelketten, verirren uns in einem Gewirr von Bergrücken und Tälern. Trotzdem schaffen wir jeden Tag Luftlinie etwa 20 Kilometer - einmal sogar mehr als 40 Kilometer reale Wegstrecke. Endlich erreichen wir den ersten Fluß, der aus den Kunlun-Bergen nach Süden fließt. Verdursten werden wir nun nicht mehr. Aber immer noch liegen 250 Kilometer bis zur ersten Piste im Norden vor uns, dazwischen das mächtige Kunlun-Gebirge. Wir haben nur noch fünf Kilo Trockennahrung pro Mann, bestenfalls genug für sechs Tage.
Satt werden wir von unseren reduzierten Rationen nicht mehr. Vor Hunger frieren wir ständig. Am 47. Tag verzehren wir feierlich unseren letzten Energieriegel. Jetzt sind die Vorratssäcke leer. Ist es ein Zufall, daß genau in diesem Moment ein wohl ebenfalls hungriger Wolf um uns herumstreicht? Und ist es ein Zufall, daß wir danach auf ein Lastwagenwrack stoßen, in dessen Fahrerkabine wir einen Stapel vertrocknetes, steinhartes Fladenbrot finden? Ein Geschenk Gottes!
Der LKW nach Quiemo
Nach 50 Tagen Fußmarsch stolpern wir in den kleinen Ort Tura. Zu unserer Überraschung ist er menschenverlassen. Zum Glück kommt wenig später ein Lastwagen vorbei, vollbesetzt mit Frauen, Männern, Kindern und Schafen. Die ersten Menschen seit fünf Wochen! Es wird gegessen, gesungen, gelacht - Alltag für diese Menschen, die wie jede Woche zum Markt nach Qiemo fahren. Wir sitzen auf der Ladefläche, eingeklemmt zwischen Uiguren, die uns Brot und Fleisch zustecken. Noch nie haben wir uns so geborgen gefühlt wie hier inmitten dieser wildfremden Menschen.
 
Vollständiger Artikel im 'Focus' 17.5.1999, 20. Ausgabe, S.102-114